Mathematik zum Anfassen

Mathematik zum Anfassen

Der Bundespräsident war persönlich da, das Fernsehen hat es zur besten Sendezeit übertragen: am 19.11.2002 wurde das weltweit erste Science Museum zum Thema Mathematik, das "Mathematikum" in Gießen eröffnet. An 50 Exponaten können die Besucher im alten Hauptzollamt Mathematik im wahrsten Sinn des Wortes begreifen oder wie der Initiator des Museums, Prof. Dr. Albrecht Beutelspacher sagt, "mit den Sinnen erleben".

20 dieser Exponate waren vorher schon an unserer Fachhochschule und wurden von einem begeisterten Publikum in Beschlag genommen. Vom 17. bis zum 29. Juni 2002 war die Ausstellung "Mathematik zum Anfassen" geplant; auf Grund der hohen Nachfrage haben wir dann bis zum letztmöglichen Termin, dem 02. Juli verlängert. Während dieser Zeit hatten über 3000 Besucher ihren Spaß mit der Mathematik, waren 106 Schulklassen aus der ganzen Region da und wurden 55 Führungen gehalten. Aus all diesen Führungen, ob es für Kindergartenkinder, Schulklassen, Lehrer oder Professoren war, hatte ich nur positive Rückmeldungen und ein entsprechendes Bild wurde auch in allen Medien gezeichnet.

Was waren die beliebtesten Experimente?

Zylinder

Viele Besucher haben ihre Größe im Dualsystem gemessen. Hierzu gab es Schaumstoff-Zylinder unterschiedlicher Dicke, die man aufeinanderstapeln konnte, bis der Stapel genauso groß war, wie der Besucher. Das Kochrezept – oder der Algorithmus, wie Informatiker sagen – hierzu war ganz einfach:
  • man nehme den höchsten Zylinder, der kleiner ist als der Besucher (genauer gesagt: kleiner oder gleich),
  • solange der Stapel kleiner ist als der Besucher, nehme man (oder Frau) den größten Zylinder, der kleiner oder gleich der verbleibenden Lücke ist.
Jeder Besucher konnte damit auf den Zentimeter genau gemessen werden und jeder Stapel war eindeutig, d.h. es gab nur genau eine Kombination aus den Zylindern, die genau gepasst hat. Die Höhen der Zylinder waren 1cm, 2cm, 4cm, 8cm, 16cm, 32cm, 64cm und 128cm – also jeweils eine Zweierpotenz cm hoch (20=1).
Bild Zylinder.
Ein Besucher (oder Professor), der 186cm groß ist, kann mit (128+32+16+8+2)cm Zylindern "gemessen" werden, er ist damit
(1*27+0*26*+1*25+1*24+1*23+0*22+1*21+0*20)cm = 101110102cm groß.
Die tiefgestellte 2 bedeutet, dass die Zahl im Dual- oder 2er-System dargestellt ist und das Prinzip hat auch Grundschülern sofort eingeleuchtet.

Wie groß (und wie alt) sind Sie im Dualsystem? Wie klein hätte der kleinste Besucher sein dürfen (12cm=1cm), den wir mit unseren Zylindern messen konnten, wie groß der oder die Größte (111111112cm=(128+64+32+16+8+4+2+1)cm=255cm)?

Brücke

Ein anderes Experiment können Sie auch zu Hause durchführen. Sie brauchen dazu nur - wie wir - einige quaderförmige Bauklötze. Diese werden mit den Längsseiten übereinander gelegt und dann soll versucht werden, eine (Halb-)Brücke zu bauen. Wie weit kommt man raus? Kann vielleicht irgendwann ein Baustein völlig über dem Abgrund schweben? Probieren Sie es aus!
Am Anfang sollten alle Steine genau übereinander liegen. Dann kann man den obersten um seine halbe Länge verschieben, unsere Brücke ragt also schon einen halben Stein über den Abgrund.
Bild Halbbrücke mit 1 Stein verschoben:
Wir können nun den zweitobersten Stein um ein Viertel seiner Länge nach außen verschieben. Sie können sich nun leicht ausrechnen, dass nun 3/4+1/4 der beiden Steine herausragen und 1/4+3/4 sich "auf der sicheren Seite" befinden.
Bild Halbbrücke mit 2 Steinen verschoben:
Wie weit können wir nun den drittobersten Stein nach außen verschieben? Mit analoger Rechnung wie oben (oder mit Ausprobieren!) sehen wir, dass wir ihn um ein Sechstel verschieben können, den Viertobersten um ein Achtel, den Fünftobersten um ein Zehntel usw.
Bild Halbbrücke mit 3 Steinen verschoben:
Bild Halbbrücke mit 4 Steinen verschoben:
Wenn wir also nur die obersten 4 Steine bewegt haben, ist der oberste Stein um 1/2+1/4+1/6+1/8=25/24 nach außen verschoben worden, befindet sich also schon vollständig über dem Abgrund!

Allgemein kann man sagen, dass wenn n Steine bewegt wurden, sich der oberste um

1/2*(1/1+1/2+1/3+1/4+...+1/n)

nach außen bewegt hat. Den Ausdruck in der Klammer bezeichnet man als die sogenannte harmonische Reihe und von dieser kann man relativ einfach zeigen, dass sie divergiert. Das bedeutet, dass ihr Wert unendlich groß wird wenn man unendlich viele Summanden – auch wenn diese sehr schnell sehr klein werden – addiert. Also können wir mit dem oben beschriebenen Kochrezept (oder Algorithmus – Sie erinnern Sich) eine beliebig weit ausgreifende Brücke bauen – das zur Beantwortung unserer ersten Frage.

Natürlich ist der Ansatz über die harmonische Reihe nicht unbedingt der effektivste Weg, eine Brücke zu bauen, unsere Besucher haben ganz schnell andere originelle Lösungen gefunden – hätten Sie nicht auch Lust, welche zu suchen?

Bild Lösung mit senkrechten Steinen.

Hier sind die Lösungen als Powerpoint-Dateien:

 Stapel mit Farbe und Länge.ppt
 Stapel mit Farbe.ppt

Pi

Ein weiteres Exponat bestand aus zwei p-Postern, d.h. von der Kreiszahl p (Sie erinnern Sich, in der Schule haben Sie mit Näherungswerten 3,14 oder 3 1/7 gerechnet) waren etwa die ersten 30000 Nachkommastellen angegeben. Was ist das Faszinierende daran? In jeder Führung wurde erläutert, dass p nicht rational ist, aber auch transzendent und wahrscheinlich auch normal.
Nicht rational heißt, dass p nicht als Bruch darstellbar ist; diese Eigenschaft hat p beispielsweise auch mit der Wurzel von 2 gemein. Im Gegensatz zur Wurzel von 2 (die Lösung der Gleichung x²-2=0 ist, d.h. Nullstelle des entsprechenden Polynoms) gibt es kein entsprechendes Polynom mit ganzzahligen Koeffizienten, das p als Nullstelle hat – dies bedeutet die Transzendenzeigenschaft von p (man sagt auch: p ist nicht algebraisch). Am meisten war das Publikum aber von der Normalitätseigenschaft von p beeindruckt: sie bedeutet, dass jede beliebige Ziffernfolge irgendwo in den Stellen von p auftauchen muss, beispielsweise jedes Geburtsdatum, meine Telefonnummer, die Lottozahlen vom letzten Samstag, die Lottozahlen vom nächsten Samstag, etc..

Mit Begeisterung wurde das erste p-Poster nach entsprechenden Kombinationen durchsucht.

Suchen Sie doch selber einmal! Bildp in Dezimaldarstellung.
http://www.joyofpi.com/pi.html

Wofür das zweite p-Poster? p behält seine Eigenschaften in jedem beliebigen Zahlensystem und so wurde p auf dem zweiten Poster in einem anderen Zahlensystem dargestellt. Wie so etwas geht, konnten die Besucher schon beim Messen ihrer Körpergröße im Dualsystem – dem System zur Basis 2 – sehen. Das zweite Poster stellt p im 26er-System dar und als Ziffern wurden hier natürlich die Buchstaben unseres Alphabetes genommen. Nach der Normalitätseigenschaft von p können Sie hier Ihren Vor- und Ihren Nachnamen finden, Ihren Wohnort – was Sie wollen. Sie finden das gewünschte u.U. nicht in den ersten 30000 Stellen, wahrscheinlich aber in den bekannten ersten 206 Milliarden Dezimalstellen und sicher in der Gesamtheit aller Stellen von p!

Suchen Sie doch selber einmal! Bildp im 26er-System.

[Prof. Dr. Arnulf Deinzer] [Mathematik zum Anfassen] [Schnupperstudium] [Öffentliche Vorträge] [Permanente Austellung Mathem. z. Anf.] [Venus-Transit] [KinderUni] [Lehrveranstaltungen] [Impressum] [public key] [Datenschutzbeauftragter]